Stadtauswahl:
Umkreis: 25 km
Frankfurt

🕘 Wörter: 1.174 • Lesedauer: ca. 3 Minuten

Grundverschieden und doch gemeinsam

Im Bahnhofsviertel halten die Menschen zusammen

Leben, arbeiten, ausgehen. Das Bahnhofsviertel ist eine Welt für sich, in der Menschen verschiedenster Herkunft und mit den unterschiedlichsten Berufe leben, und doch an einem Strang ziehen – um ihr Quartier lebenswerter zu machen. Am 21. August kann man sie bei der Bahnhofsviertelnacht kennenlernen.

Frankfurt am Main - Mit einem Karton voller Kinderspielsachen, Buntstiften, Zeichenpapier und einem Fragebogen machen sich derzeit Diana Ninov und Christine Fiebig im Bahnhofsviertel auf Spurensuche. Kindheit im Bahnhofsviertel heißt das Projekt, an dem die beiden freischaffenden Künstlerinnen gemeinsam mit den Menschen des Quartiers arbeiten. „Weil es so ungeheuer vielschichtig ist“, erklärt Diana Ninov. Sie hat ihr Atelier seit Jahren in der Basis, der Produktions- und Ausstellungsplattform für Künstler in der Gutleutstraße 8-12. Sie kennt den Stadtteil in- und auswendig, mit all seinen Besonderheiten, wie sie sagt. Früher habe sie auch dort gewohnt, in der Münchner Straße. Als die Mieten stiegen, ist sie fortgezogen. Geblieben sei eine spezielle Verbundenheit mit dem Viertel, der sie auch mit dem jüngsten Projekt Ausdruck geben möchte.

Spurensuche bei Weser5

Die Idee des Kunstprojekts ist, die Aufmerksamkeit nicht allein auf die Situation der im Stadtteil lebenden Kinder zu lenken, sondern auch auf die Erwachsenen. Über die Hälfte der dort Wohnenden haben ihre Wurzeln in anderen Kulturen. „Sie haben ihre Kindheit, die unabänderlicher Bestandteil ihrer Biografie ist, völlig unterschiedlich erlebt“, sagt Diana Ninov. Die Spurensuche beginnen sie und Christine Fiebig im Diakoniezentrum Weser5: „Weil dies für viele Menschen die erste Anlaufstelle im Viertel ist.“ Drei Fragen stellen sie Besuchern und Hilfesuchenden: Wo haben Sie Ihre Kindheit verbracht? Welche Spiele haben Sie gespielt? An welche Kinderlieder erinnern Sie sich? Sprachprobleme habe es trotz der unterschiedlichen Herkunft der Weser5 Besucher bislang nicht gegeben. „Wir bringen es gemeinsam auf neun Sprachen“, sagt Diana Ninov. Sie selbst, in Bulgarien aufgewachsen und seit ihrem Studium in Deutschland lebend, bringt es allein schon auf fünf.

Überraschende Talente


Die Antworten auf die Fragen nach der Kindheit seien manchmal schüchtern, manchmal emotional bewegend gekommen. Erinnerungen seien wach gerüttelt worden, nicht zuletzt auch durch die Spielsachen, die die Künstlerinnen mitbringen. Es sei dann nur noch ein kleiner Schritt, dass die Befragten diesen Erinnerungen Ausdruck gäben – mit Zeichnungen und manchmal auch mit Musik. Während des Projekts wurde gelacht, mit Konzentration gezeichnet und geschrieben. Manche haben Fähigkeiten, die im Tagestreff für Überraschung sorgen, andere würden gerne weitermachen: ein Musiker, dem die Gitarre fehlt, damit er seine Liedtexte wieder begleiten kann, eine junge Frau, die gerne öfter zeichnen würde und die die Künstlerinnen mit ihrer Präzision und Hingabe überraschte. Die Ergebnisse fielen so unterschiedlich aus, wie es die Menschen und ihre Kinderjahre seien, sagt Ninov.

Das größte Kunstwerk des Viertels

Alle Dokumente werden gesammelt und im Oktober mit einer Ausstellung im Stadtteilbüro in der Moselstraße präsentiert. Eigentlich sollten sie im Weser5 gezeigt werden, zur Bahnhofsviertelnacht am 21. August, sagt Regina Lutz, Leiterin der Einrichtung. „Die Bilder wollten wir an einer Leine aufhängen, in unserem Innenhof, um sie für Besucher gut sichtbar zu machen.“ Daraus werde nun nichts. Der Außenbereich der Einrichtung wird saniert, ist Baustelle statt beschaulicher Versammlungsort. Deshalb könne auch das wahrscheinlich größte je im Bahnhofsviertel entstandene Kunstwerk erst im Herbst angegangen werden: ein über Straßen, Gehwege, den Weser5-Innenhof reichendes Kreidebild, an dem neben den Künstlerinnen Diana Ninov und Christine Fiebig alle großen und kleinen Bewohner des Bahnhofsviertel mitwirken sollen. Es ist ein typisches Projekt für den Stadtteil – nirgendwo anders in der Stadt leben und arbeiten so viele Menschen unterschiedlichster Kulturen und Herkunft zusammen. Banker, Künstler, Händler, Cafébetreiber, Familien, Prostituierte. Menschen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben und sich doch zusammentun – fürs Viertel, für ein Miteinander statt Nebeneinander.

Ein spezielles Lebensgefühl

Das Lebensgefühl zwischen Prachtaltbauten, Boulevards, Laufhäusern und Dönerlokalen ist anders als in anderen Stadtteilen. Lange Zeit galt das Bahnhofsviertel als Schmuddelecke der Stadt, immer mehr Menschen zogen weg. Doch langsam kommen sie wieder. Innerhalb der vergangenen zehn Jahre stieg die Zahl der Einwohner mit Hauptwohnsitz um rund 1.000 auf 3.436. Stadt und Land fördern die Sanierung von Wohnungen oder die Umnutzung von Büro- zu Wohnraum. Das Interesse am Bahnhofsviertel wächst nicht nur bei Wohnungssuchenden, sondern auch bei Gastronomen und Geschäftsleuten.

Dem Lebensgefühl des Quartiers spürt auch Julia Wahl aus dem Stadtteilbüro nach. Sie befragte die Bewohner, was ihnen zu ihrem Stadtteil einfiele. Ganz erstaunliche Dinge seien dabei zu Tage getreten, sagt die quirlige Blonde. Der ehemaligen Pfarrer der Weißfrauen-Diakoniekirche, der in den 1980er Jahren dort tätig war, habe in dem Gespräch von einer „ganz besonderen Gemeinde“ berichtet und davon, dass die Menschen „wie auf dem Dorf“ miteinander gelebt und gefeiert hätten. Julia Wahl sagt, dass von diesem Gefühl auch heute noch an Wochenenden, wenn die rund 30.000 Arbeitnehmer der Banken, Versicherungen, sonstigen Branchen nicht im Quartier seien, noch ganz viel zu spüren sei. „Da ist man dann unter sich“, sagt sie.

Starke Identifikation

Sogar eigene Wortneuschöpfungen bezogen auf ihr Quartier hätten Anwohner gefunden. So beurteilten sie die Anwesenheit von Drogenabhängigen, Prostituierten, Obdachlosen als „nicht straßenempfindungserheblich“, was so viel bedeuten solle wie: stört nicht weiter. Weitaus erheblicher sei bei vielen die Angst vor dem Fortschreiten der Gentrifizierung im Viertel. Auch dafür hätten Anwohner eine spezielle Vokabel gefunden: Westendifizierung. Gemeinsamer Nenner bei allen Interviews, sagt Julia Wahl, sei bei allen Unterschieden das: eine sehr starke Identifikation mit dem Viertel.

Und ein großer Zusammenhalt. Lange habe man nach einem Ort gesucht, an dem die Kinder des Quartiers sicher spielen können. Auf dem Schulhof der Karmeliterschule wurde schließlich ein Spielplatz eingerichtet. Wie unaufgeregt, kreativ und dabei sensibel man mit Gegebenheiten umgehe, zeigt der Konsens, den man gemeinsam gefunden habe. Schnell sei man einig gewesen, die Kinder nicht unbeaufsichtigt auf dem Spielplatz zu lassen – “um Fehlnutzung zu verhindern“. Indessen sei aber auch klar, dass eine eigens abgestellte Aufsichtsperson zu aufdringlich und für die dort spielenden Kinder eher störend sei. Gelöst werde das Problem nun so, dass die Erwachsenen der Hausaufgabenbetreuung in der Schule an den Nachmittagen ein wachsames Auge auf den neuen Spielplatz hätten.

Sichtbarer Zusammenhalt

Die Kreativität und der Zusammenhalt der Leute im Bahnhofsviertel sei unschätzbar groß, sagt Julia Wahl. Das zeigen die Menschen, die ihr bei ihrer Arbeit täglich begegnen genauso wie die beiden Künstlerinnen Diana Ninov und Christine Fiebig. Deren Ausstellung im Stadtteilbüro im Oktober werde das für alle Frankfurter nachvollziehbar aufzeigen. Zur Bahnhofsviertelnacht, mit der die Stadt für den 21. August zum Bummel durchs Quartier und zum Blick hinter die Kulissen bittet, kann man mehr erfahren über die Arbeit des Stadtteilbüros, über Projekte im Viertel und auch über die Arbeit von Diana Ninov und Christiane Fiebig.

Sylvia A. Menzdorf

Quelle: Stadt Frankfurt am Main - Presse- und Informationsamt
Unterhaltung