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Frankfurt

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Sprungbrett Schauspiel

Im Regiestudio am Willy-Brandt-Platz können sich Nachwuchstalente ausprobieren Das gibt es sonst nirgendwo in der deutschsprachigen Theaterwelt: Am Schauspiel Frankfurt bekommen drei junge Regisseure ein Jahr die Gelegenheit, sich auszuprobieren. Johanna Wehner, Moritz Eisenach und Ersan Mondtag heißen die Talente, mit denen das Projekt Regiestudio in der Spielzeit 2013/2014 Premiere feiert. Für die kommende Saison gibt es bereits 150 Bewerber. Frankfurt am Main (pia) Wenn an deutschen Theatern kein Blut spritzt und nicht geschrien wird, dann ist es kein Theater. Diesen Satz kann Alexander Eisenach nicht stehen lassen. „Ein Klischee!“, sagt er. „Warum sollte man nicht mit Blut spritzen?“ „Warum sollte man?“ fragt Johanna Wehner zurück. Wehner und Eisenach, zwei junge Regisseure, sitzen in der Kantine des Schauspiels und debattieren. Stundenlang können sie das. Über Publikum und Erwartungen, darüber, für wen Theater gemacht wird – für Kenner? Für alle? Sie debattieren über den Begriff Performance – viel zu oft benutzt, finden die beiden. Über Ekeltheater, Boulevardpresse und Scheinheiligkeit. Ihr Kollege Ersan Mondtag, der mit Wehner und Eisenach in der Kantine zusammensitzt, stützt derweil den Kopf in die Hand, schaut sich um, schaut auf sein Smartphone, schweigt. Einmaliges Projekt Drei junge Theatermenschen, alle hochtalentiert, keiner wie der andere – genauso will es das Schauspiel Frankfurt. Seit Beginn der aktuellen Spielzeit bietet das Haus mit dem Regiestudio drei Nachwuchsregisseuren ein Jahr lang die Möglichkeit, sich auszuprobieren, eine eigene Handschrift zu entwickeln, in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Denn das, erklärt Clara Topic-Matutin, Künstlerische Referentin am Schauspiel Frankfurt und Leiterin des Regiestudios, bleibt den meisten Talenten verwehrt. In Deutschland gebe es pro Jahr etwa 20 Regie-Absolventen allein an den wichtigsten Hochschulen. Nur ein oder zwei von ihnen bekommen nach ihrer Diplominszenierung die Chance an einem Stadttheater zu arbeiten. Der Rest des Jahrgangs – und Gleiches gilt auch für die jungen Regisseure, die ihre Abschlussinszenierung an einem der kleineren Stadttheater präsentieren – haben es sehr schwer, ihren Weg auf den Markt der freien Regie zu finden und somit keine Chance, sich weiterzuentwickeln, keine Möglichkeit, sich einen Namen zu machen. Im deutschsprachigen Raum ist das Konzept des Regiestudios einmalig. Schon nach dem ersten Aufruf im Frühjahr vergangenen Jahres bewarben sich 150 junge Männer und Frauen. Dieses Jahr sind es bereits ebenso viele – die Bewerbungsfrist für die kommende Spielzeit ist gerade abgelaufen. Unterschiedliche Charaktere Bevor die Entscheidung für Wehner, Eisenach und Mondtag fiel, haben Clara Topic-Matutin und ihre Co-Kuratoren mehr als 60 Inszenierungen gesehen und dabei bewusst ganz unterschiedliche Charaktere gesucht, die sich bei ihrer gemeinsamen Arbeit am Regiestudio gegenseitig befruchten sollen. „Alexander Eisenach ist der Intellektuelle, ein kluger Theoretiker“, charakterisiert Topic-Matutin. „Johanna Wehner schreibt alle ihre Textfassungen selbst, ihre Figuren werden schon beim Lesen deutlich. Ersan Mondtag ist der Sperrige, arbeitet mit großen, kunstvollen Bilden, kommt aus dem performativen Bereich.“ Wehner, Eisenach und Mondtag dürfen, ja, sollen spielen – mit unterschiedlichen Formaten von der klassischen Inszenierung über szenische Lesungen bis zu experimentellen Abenden. Ihre Bühne ist die Box, ein zwölf mal acht Meter großer Raum im Treppenhaus des Schauspiels. Den sie für eine Kneipentour mit Publikum gern verlassen. „Auf ein bis fünf Bier“, bei Gesprächen ohne Hemmschwelle. „Nicht wir oben und ihr unten“, beschreibt Eisenach. Ungewohntes Privileg Echte Neulinge in der Schauspielszene sind sie alle nicht. Johanna Wehner, 1981 in Bonn geboren, hat sich lange dagegen gesträubt, ans Theater zu gehen, zuerst Philosophie und Germanistik studiert, bevor sie sich für das Regiestudium an der Bayerischen Theaterakademie entschied. Sie wurde bereits mehrfach als beste Nachwuchsregisseurin nominiert, arbeitete zuletzt in Jena, kennt das Geschäft. „Es ist ein großes Glück, wenn man kontinuierlich inszenieren kann“, meint sie. Viele Kollegen könnten das nicht, müssten die Regie aufgeben, manchen gelänge es dann, an ihre Kenntnisse anzuknüpfen und andere Berufe am Theater zu ergreifen. Mit einem festen Ensemble kontinuierlich zu arbeiten, in die Betriebsstruktur und den Alltag eines Theaters eingebunden zu sein und auch noch die finanzielle Sicherheit einer Festanstellung zu haben, fühle sich erst mal ungewohnt an und irritiert, aber es ist natürlich ein großes Privileg. Eigene Handschrift Alexander Eisenach, gebürtiger Berliner, Jahrgang 1984, hat in den vergangenen vier Jahren regelmäßig am Centraltheater Leipzig inszeniert. Eine eigene Handschrift, wie sie das Regiestudio zutage bringen will, muss er nicht mehr entwickeln, vielmehr hat er sie schon gefunden. Theater – für ihn bedeutet es Texten. „Ursprünglich wollte ich schreiben“, erzählt er. Um die Dimension eines Textes zu erfahren, müsse man über das Lesen hinausgehen. Eisenach taucht ein in Analysen und epische Stücke, dialogisiert sie. Dabei entstehen unerwartete Assoziationen. Mehr als drei Inszenierungen pro Spielzeit würde Eisenach nicht angehen. „Es findet dann keine ernsthafte Auseinandersetzung mehr mit dem Stoff und den Spielern statt.“ Gerade als Regisseur sei es verführerisch, aus wirtschaftlichem Druck oder Gier nach Ruhm zu viele Zusagen zu machen, meint er. Geliebter Adrenalinschub Ersan Mondtag, 1987 in Berlin geboren, kann dabei nichts finden. Fünf bis sechs Inszenierungen pro Spielzeit – warum nicht? „Das machen andere Angestellte doch auch.“ Im Gegensatz zu Eisenach, der seine Arbeit liebt, sich von ihr aber bis zur Schlafstörung stressen lässt, genießt Mondtag den Adrenalinschub, die Krise vor der Premiere. Er kam übers Spielen zur Bühne – Musical, Theater, Film. Mit 18 Jahren inszenierte er zum ersten Mal, hospitierte danach bei Frank Castorf, Thomas Langhoff und Claus Peyman, seine Ausbildung an der Otto Falckenberg Schule beendete Mondtag vorzeitig. „Seine Bilder“, sagt Clara Topic-Matutin, „haben eine vollkommen eigene Formensprache.“ Unerträgliche Spannung Figuren, Texte, Bilder. Drei Regisseure, drei Herangehensweisen. In einem Punkt sind sich Wehner, Eisenach und Mondtag allerdings sehr ähnlich. Keiner von ihnen kann sich die Premiere der eigenen Inszenierungen ansehen. „Es ist die Hölle“, sagt Mondtag, „in Frankfurt habe ich zum ersten Mal nicht als Darsteller mitgemacht, hatte keine Funktion außer zuzuschauen – ich bin gegangen.“ Johanna Wehner steigt nach der Generalprobe aus, Eisenach erträgt es nicht „bei den Aufführungen die eigene Unzulänglichkeit vor Augen geführt zu bekommen“ und verzieht sich in die Raucherecke der Kantine. Die Spielzeit 2013/2014 endet mit einem Festival, jeder der drei jungen Regisseure erarbeitet eine Inszenierung in den Kammerspielen, Theaterkritiker und Intendanten anderer Häuser sind eingeladen. Das Publikum hat derweil die Gelegenheit, alle Inszenierungen, die über das Studiojahr entstanden sind, noch einmal anzusehen. Bildquelle: www.frankfurt.de
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